Wie KI unsere Wahrnehmung verändert – Essay von Nicolas Rutschmann
Wie KI unsere Wahrnehmung verändert
Warum ein Roman über Bilder, die täuschen – und über eine Realität, die sich selbst programmiert.
In den vergangenen Jahren hat sich leise und gleichzeitig rasant etwas verschoben:
Nicht nur, was wir sehen, hat sich verändert – sondern wie wir sehen.
Algorithmen sortieren, filtern, verdichten. Kameras sind überall,
Studios wirken makellos, und doch sind ihre Bilder selten neutral.
Wir erleben Wirklichkeit in hochaufgelösten Ausschnitten: sauber, flüssig, überzeugend – und oft gerichtet.
Das ist kein kulturpessimistischer Alarmismus, sondern die nüchterne Feststellung,
dass Produktions- und Distributionsmittel heute eine neue Qualität erreicht haben.
KI kann Gesichter verjüngen, Stimmen imitieren, Szenen erweitern,
Archive durchsuchen und „Lücken“ elegant schließen. Ein Klick zu viel
– und ein plausibles Narrativ ist geboren.
Mich interessiert dabei nicht die Schlagzeile vom „großen Betrug“,
sondern die stillen Verschiebungen unserer Wahrnehmung:
Wie schnell akzeptieren wir einen Bildfluss, nur weil er sich nahtlos anfühlt?
Wie leicht verwechseln wir Glätte mit Wahrheit?
Und wie wirkt sich das auf Menschen aus, die im Live-Betrieb Entscheidungen treffen müssen?
»Auf Sendung« setzt dort an.
Eine Samstagabendshow gerät aus dem Ruder – und während Millionen Menschen live zusehen,
lässt sich das Unerklärliche nicht mehr verorten: Im Saal geschieht nichts,
auf den Monitoren alles. Eine Geisel wird genommen, Täter scheinen zu existieren
– aber niemand kann sie finden. Aus dem Regieraum heraus beginnt der Kampf gegen ein Bild,
das schneller ist als jede Kontrolle.
Ich habe viele Jahre in Medienumgebungen gearbeitet, in denen Präzision, Timing und Vertrauen
nicht verhandelbar sind. Genau dort wird Manipulation gefährlich, weil sie nicht polternd,
sondern reibungslos daherkommt. Der Roman ist deshalb kein Technik-Pamphlet,
sondern ein Blick auf Menschen unter Druck: Was macht es mit einer Bildmischerin,
wenn ihr Gewissen gegen den Programmbetrieb steht? Was mit einem Regisseur,
wenn er entscheiden muss, ob er seinem Bild glauben darf?
Angst gehört zur Erzählung, nicht zur Haltung.
Denn Bewusstsein entsteht nur dort, wo sich Angst zeigt.
Welchen Quellen halte ich stand? Welches Tempo mute ich mir zu?
Wie viel Zweifel lasse ich im fertigen Bild überhaupt noch zu?
Diese Fragen haben nicht erst mit KI begonnen.
Aber KI verschärft sie – weil sie Friktion entfernt und das „Wie“ des Bildermachens unsichtbar macht.
Literatur darf hier, was Live-Fernsehen nicht kann: verlangsamen, verweigern, nach innen kippen.
»Auf Sendung« nutzt den Thriller-Impuls – Tempo, Druck, Risiko –
um Wahrnehmung wieder spürbar zu machen. Nicht, um belehrend zu sein,
sondern um die eigene Blickroutine zu stören. Wenn am Ende eine
Frage übrig bleibt – wem vertraue ich, wenn alles plausibel aussieht? –
dann hat der Text erreicht, was er soll.
Fazit: Wir brauchen kein Misstrauen gegen Bilder –
wir brauchen ein Bewusstsein dafür, wie sie entstehen.
Genau dorthin führt dieser Roman. Nicht mit dem Finger, sondern mit einer Geschichte,
die die Mechanik sichtbar macht.
»Auf Sendung« von Nicolas Rutschmann · 244 Seiten ·
Taschenbuch & e-Book.
Mehr Informationen und Bezugsquellen:
rutschmann.de
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